6 1 / 2024 // LEOPOLDINA / NEWSLETTER
„ Das Konzept der Vulnerabilität kann vom Privileg zum Problem werden “
Internationale Konferenz zu Rahmenbedingungen für klinische Studien an vulnerablen Gruppen
Im Sommer 2023 hat die Leopoldina-Arbeitsgruppe „ Rahmenbedingungen für klinische Studien an vulnerablen Personen “ ihre Tätigkeit aufgenommen , am 14 ./ 15 . Mai 2024 wird in München zu diesem Thema eine Tagung der Leopoldina in Kooperation mit der Bundesärztekammer und dem Weltärztebund stattfinden . Ein Gespräch mit den Leopoldina-Mitgliedern und Sprechern der AG , dem Pädiater Stefan Pfister und dem Medizinethiker Urban Wiesing .
Welche Gruppen von Menschen sind besonders vulnerabel , Herr Wiesing ? Urban Wiesing : Die Frage führt uns mitten in das Problem hinein : Geht es um Menschen , die mit größerer Wahrscheinlichkeit ungerecht behandelt werden , um ein höheres Schädigungspotential durch bestimmte Therapien oder geht es um die Frage der Zustimmungsfähigkeit ? Bei manchen Definitionsversuchen droht die Liste von vulnerablen Gruppen allerdings recht lang zu werden . Zugespitzt könnte man sagen , dass nur weiße , wohlhabende Cis-Männer im besten Alter ausgenommen sind . Das führt aber nicht weiter . Wir müssen deshalb genauer fragen , was bestimmte Gruppen kennzeichnet und welche unterschiedlichen Maßnahmen sie schützen können . Sind zum Beispiel Schwangere prinzipiell immer vulnerabel oder nur in bestimmter Hinsicht ?
Herr Pfister , Sie behandeln Kinder und Jugendliche mit Krebserkrankungen . Sind sie alle gleichermaßen vulnerabel ? Stefan Pfister : Auch hier muss man differenzieren : Ab einem Alter von zwölf Jahren gelten Heranwachsende als bedingt einwilligungsfähig , Patienteninformationen werden schon heute auf das Alter der Kinder zugeschnitten und sind für verschiedene Altersgruppen verfügbar . Das Konzept der Vulnerabilität soll im positiven Sinne Schutz bieten . Bedeu-
Stefan Pfister ML gehört seit 2020 der Leopoldina an und ist einer der beiden Sprecher der Arbeitsgruppe „ Rahmenbedingungen für klinische Studien an vulnerablen Personen “. Er leitet die Abteilung für Pädiatrische Neuroonkologie am Deutschen Krebsforschungszentrum Heidelberg ( DKFZ ) und ist Direktor des Hopp-Kinder- tumorzentrums Heidelberg . Foto : Jung | DKFZ
tet es aber weniger oder gar keinen Zugang zu therapeutischen Innovationen , kann es auch ein Nachteil sein und vom Privileg zum Problem werden , gerade bei Kindern und Jugendlichen mit lebensbedrohlichen oder sogar in der Regel tödlich verlaufenden Erkrankungen .
Inzwischen zeigen sehr gute Studien , dass die meisten Medikamente von Kindern , auf die Körperoberfläche umgerechnet , genauso verstoffwechselt werden wie von Erwachsenen . Trotzdem entsteht heute durch Regularien , die diese Gruppe eigentlich schützen sollen , eine große Latenz bis zum Einsatz von Medikamenten , Studien sprechen von etwa sechs Jahren im Durchschnitt . Das ist absolut nicht hinnehmbar .
Urban Wiesing ML ist seit 2011 Mitglied der Leopoldina und wirkt seit 2023 als einer der beiden Sprecher der Arbeitsgruppe „ Rahmenbedingungen für klinische Studien an vulnerablen Personen “. Der Medizinethiker und -historiker ist Direktor des Instituts für Ethik und Geschichte der Medizin an der Universität Tübingen .
Foto : Universitätsklinikum Tübingen
Wiesing : Schon heute gibt es eine Differenzierung bei der Einwilligungsfähigkeit . Ab einer bestimmten Entwicklungsstufe haben Heranwachsende ein Verweigerungsrecht bei der Teilnahme an Forschung . Jugendliche mit chronischen Krankheiten kennen sich mit ihrer Erkrankung oft besser aus als Erwachsene . Können sie „ Tragweite und Bedeutung “ der Forschung einschätzen , dann sollen auch sie ihren „ Informed Consent “ zur Teilnahme an einer Studie geben .
In der Deklaration von Helsinki des Weltärztebundes geht es auch um die Gefahren und Belastungen , die mit der Teilnahme an klinischen Studien verbunden sind . Sie möchten in der Arbeitsgruppe