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12 1 / 2022 // LEOPOLDINA / NEWSLETTER

„ Geschichte der Opfer weiter aufarbeiten “

Leopoldina-Mitglied Paul Weindling über seine Forschung zur Medizin im Nationalsozialismus
2015 erhielt Leopoldina-Mitglied Paul Weindling den Anneliese Maier-Forschungspreis der Alexander-von-Humboldt- Stiftung . Mit den Fördermitteln baute der britische Medizinhistoriker am Zentrum für Wissenschaftsforschung ( ZfW ) eine Datenbank für die Opfer der medizinischen und psychiatrischen Forschung in der Zeit des Nationalsozialismus auf . Im Interview zieht er Bilanz und blickt auf die Frühjahrstagung des ZfW im Juni voraus .
Herr Weindling , was leistet die Datenbank , die in den zurückliegenden fünf Jahren zu Opfern medizinischer Forschung im Nationalsozialismus erarbeitet wurde ? Paul Weindling : Wir haben jetzt 28.656 Biografien erfasst . Wir können Daten verknüpfen , zu Tätern , zu Häftlingspersonal , und Verbindungen herstellen zur Forschungsliteratur . Die Daten sind für weitere Forschungen verfügbar . Es ist aber auch für Familien wichtig zu wissen , dass die Geschichte eines Angehörigen nicht mit dessen Ermordung endete , sondern dass sein Gehirn für Forschungszwecke aufbewahrt wurde . Das muss transparent gemacht werden , und das können wir jetzt .
Wie schwierig war es , die Biografien zu rekonstruieren ? Weindling : Es ist arbeitsintensiv , es läuft viel über Archive wie die Arolsen- Archives – International Center on Nazi Persecution mit ihrer großen Sammlung an Häftlingsakten . Es finden sich immer wieder Unterlagen zu Versuchen wie denen des Tropenmediziners Klaus Schilling zu Malaria im Konzentrationslager Dachau mit 11.100 Opfern , da sind viele Akten erhalten . Auch gibt es dort das Beispiel des Revierschreibers Eugen Ost . Er hat Beweisstücke gerettet , die zeigen , es gab auch Widerstand , Sabotageversuche .
Paul Weindling ML ist seit 2014 Mitglied der Leopoldina . Seit 1998 ist er Professor für Medizingeschichte an der Oxford Brookes University / UK . Er ist Experte für die Geschichte der Medizin im National- sozialismus .
Foto : Oxford Brookes University
chen “ des SS-Arztes Josef Mengele waren einige wenige Kinder keine Zwillinge . Es waren Verwandte , die einem Kind ähnlich sahen , und ihm so das Überleben ermöglicht haben . Oder bei den „ Kälteversuchen “ im KZ Dachau haben Inhaftierte die Messgeräte für die Wassertemperatur gefälscht . Deshalb muss man die Ergebnisse mit Skepsis betrachten . Das ist eine wichtige Ebene der Geschichte .
In die Datenbank sind auch Menschen aufgenommen worden , deren Gehirne von der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft für psychiatrische Experimente benutzt wurden … Weindling : Ja , hier muss man klären : Wie ist der Patient gestorben ? War er womöglich Opfer der „ informellen Euthanasie “, bei der Menschen durch Essensentzug , mangelnde Versorgung oder Gift zu Tode kamen . Und dann muss aufgeklärt
Was heißt an dieser Stelle Sabotage ? Weindling : Bei den „ Zwillings-Versuwerden , wie das Hirnschnitt-Präparat für die weitere Forschung genutzt wurde .
Sie erinnern mit Ihrer Arbeit an die Opfer , wurden diese auch über Entschädigungen anerkannt ? Weindling : Ab Mitte der 1980er Jahre gibt es ein gewisses Bewusstsein , dass die NS-Forschungen unethisch waren . Aber die Opfer wurden nicht als Individuen gesehen . Die Frage ist : Was wurde für die Überlebenden gemacht ? Viele mussten mit Schmerzen weiterleben . So wurden Sinti und Roma für Forschungen zu Chemie-Waffen benutzt . Später hieß es , diese Menschen seien Verbrecher und ihre Inhaftierung legitim gewesen . Das ist absurd und rassistisch , aber die Opfer bekamen deshalb lange keine Entschädigung . Die Geschichte der NS-Medizin- Opfer muss weiter aufgearbeitet werden .
Die Frühjahrstagung des ZfW wird sich auch mit dem Thema „ Medizin im Nationalsozialismus “ und Ihrer Forschung beschäftigen . Was ist geplant ? Weindling : Wir wollen eine Bestandsaufnahme über die Forschung zu Opfern und Tätern bieten , Erkenntnisse präsentieren und kritisch diskutieren . Zum Beispiel , welche Spuren die nationalsozialistische Medizin in Deutschland hinterlassen hat . Ebenso wird es um kulturelle Aspekte gehen . Zu allem wird es öffentliche Vorträge geben . Ich freue mich , dass es im Juni diese Veranstaltung geben wird und unsere Teamarbeit am Zentrum für Wissenschaftsforschung damit sichtbar wird .
■ DAS GESPRÄCH FÜHRTE CHRISTINE WERNER
Paul Weindling
Frühjahrstagung „ Biowissenschaften und Medizin im Nationalsozialismus “