Leopoldina aktuell_3 2023 | Page 16

16 3 / 2023 // LEOPOLDINA / NEWSLETTER

„ Die Kontroverse , die uns voranbringt , wird oft nur als Inkompetenz betrachtet “

Zum Symposium der Klasse IV hält Leopoldina-Mitglied Martin Carrier die öffentliche Vorlesung
Leopoldina-Mitglied Martin Carrier ist Wissenschaftsphilosoph . Als Professor an der Universität Bielefeld forscht er zu Wissenschaftsskepsis und Wissenschaftsleugnung sowie Strategien dagegen . Am 22 . November hält er die öffentliche Leopoldina-Vorlesung „ Die Wissenschaft unter Beschuss . Zum Umgang mit Fälschung und Leugnung “ im Rahmen des Symposiums der Klasse IV .
Der Wissenschaft wurde lange vertraut . Seit einiger Zeit gibt es in Teilen der Öffentlichkeit jedoch eine Wissenschaftsskepsis . Wann hat diese Entwicklung angefangen ? Martin Carrier : Das ist ein allmählicher Stimmungsumschwung , und wichtig ist : Es ist nicht die Wissenschaft insgesamt betroffen . Zum Beispiel wird das Standardmodell der Teilchenphysik auch von Skeptikerinnen und Skeptikern geglaubt . Aber wenn es um Klimawandel , Pandemie , Gesundheit , Ernährung geht , wenn also die Wissenschaft das Leben der Menschen betrifft , dann wird es für einige schwierig .
Gilt das so auch für Wissenschaftsleugnerinnen und -leugner ? Carrier : Bei diesen Menschen geht es in vielen Fällen gar nicht so sehr um die Wissenschaft . Sie sind gegen eine bestimmte Politik , es ist politische Opposition unter falscher Flagge . Sie greifen die Wissenschaft an , weil bei ihnen der Eindruck einer Ableitungsbeziehung zwischen Wissenschaft und Politik besteht , dass also aus Erkenntnissen der Wissenschaft eine bestimmte Politik folgt . Und leider hat die Wissenschaft diesen Eindruck auch verstärkt .
Inwiefern ? Carrier : Indem sie während der Coronavirus-Pandemie zum Teil konkrete Handlungsempfehlungen gegeben hat .
Martin Carrier .
Foto : privat
Gerade bei der Bekämpfung der Pandemie ging es auch um gesellschaftliche und politische Werte . Darum , wie man Gesundheit , Wirtschaftskraft und das soziale Miteinander gewichtet . Setze ich ganz stark auf Gesundheitsschutz und nehme dafür in Kauf , dass Menschen vereinsamen ? Oder nehme ich Infektionen , letztlich auch Tote in Kauf , um die Wirtschaft am Laufen zu halten ? Solche Entscheidungen kann nicht die Wissenschaft treffen . Das ist Sache der Politik oder von uns Bürgerinnen und Bürgern . Aber die Glaubwürdigkeit der Wis-
SYMPOSIUM KLASSE IV
Nach der Urkundenübergabe an die neuen Mitglieder der Klasse IV – Geistes- , Sozial- und Verhaltenswissenschaften und der öffentlichen Vorlesung am Mittwoch , 22 . November , mit Martin Carrier ML findet an den beiden folgenden Tagen das Symposium „ Die Autorität der Wissenschaften auf dem Prüfstand “ statt . Hier geht es vor allem um diejenigen Disziplinen , die wie die Psychologie , die Wirtschafts- und die empirischen Sozialwissenschaften in modernen Gesellschaften besonders umstritten sind .
Leopoldina-Vorlesung senschaft leidet auch durch unzuverlässige Studien , statistische Fehler – und weil die Öffentlichkeit zu wenig über wissenschaftliche Methoden weiß .
Wissenschaftliche Prozesse müssten also stärker kommuniziert werden ? Carrier : Ja , denn viele Menschen haben ein falsches Bild von Wissenschaft . Viele haben zum Beispiel die Vorstellung : Entweder ist etwas bewiesen oder es ist völlig haltlos . Die Kontroverse , das diskursive Austragen von Unsicherheit , das uns ja voranbringt , das wird oft nur als Inkompetenz betrachtet . Auch Meinungsänderungen werden falsch aufgefasst . Diese sind wichtig , denn sie passen die Erkenntnisse an neue Befunde an . Auch solche Revisionen werden in der Öffentlichkeit nicht selten als Versagen gewertet . Es käme darauf an , besser zu vermitteln , dass Wissenschaft durch den Umgang mit Unsicherheit dazulernt .
Hilft das auch in der Diskussion jenen , die Wissenschaft leugnen ? Carrier : Da macht es wenig Sinn , Wissenschaft und den aktuellen Forschungsstand erklären zu wollen . Ein Seminar über Virologie wäre zwecklos , denn die , die leugnen , sind ja überzeugt davon , dass sie Bescheid wissen .
Das Einzige , was da hilft , ist eine Art interne Kritik . Dass man sich auf den Standpunkt einlässt und Widersprüche deutlich macht . Damit wird man Schlüsselfiguren zwar nicht erreichen , aber die eigentliche Zielgruppe sind die Umstehenden , gerade in den sozialen Netzwerken . Es geht darum , die Schlüsselfiguren bloßzustellen . Und dafür muss Wissenschaftskommunikation dahin , wo diese Menschen unterwegs sind . Das ist nicht die akademische Vorlesung , das sind soziale Netzwerke .
■ DAS GESPRÄCH FÜHRTE CHRISTINE WERNER