Leopoldina aktuell_3 2023 | Page 7

3 / 2023 // LEOPOLDINA / NEWSLETTER 7
setz ist das Endprodukt eines parlamentarischen Prozesses . Juristinnen und Juristen denken viel darüber nach , warum Gesetze eigentlich gelten , was ihre Normativität ausmacht , warum wir sie befolgen . Wenn wir an Recht in einem modernen Rechtsstaat denken , dann haben wir Durchsetzungsinstanzen wie Polizei und Gerichte . Interessant ist aber , dass es Entscheidungen gibt , die auch ohne solche Instanzen beachtet werden , etwa die von Verfassungsgerichten . Wir haben es also mit einem schillernden Gegenstand zu tun , der sofort seine Eindeutigkeit verliert , wenn wir etwas länger darüber nachdenken .
Kann die Vorstellung von einem vorgegebenen „ Naturrecht “ als Brücke zwischen juristischen und naturwissenschaftlichen Gesetzen gelten ? Voßkuhle : Das haben wir lange geglaubt : Die Vorstellung von etwas Göttlichem , das der Mensch erkennen und in ein Gesetz überführen kann , hat ja eine lange Tradition . Spätestens mit dem Aufkommen der Analytischen Philosophie zu Beginn des 20 . Jahrhunderts wurde die Vorstellung eines solchen Naturrechts aber problematisch . In Deutschland erlebte sie eine Renaissance , als es um die Gräueltaten der NS-Zeit ging und sich die Frage stellte , ob es nicht auch positive Gesetze gibt , die Unrecht sind , weil sie gegen die Gerechtigkeitsidee verstoßen .
Patrick Joseph Siegle ( Freiburg im Breisgau ), Maryana Yaremko ( Hamburg ) sowie Vivian Oktay Yurdakul ( Wuppertal ) ( v . l . n . r .) erhielten ein Reisestipendium , um an der Jahresversammlung teilzunehmen . Die Stipendien wurden erstmals an junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern vergeben und haben es dem Juristen , der Germanistin und dem Historiker ermöglicht , vor Ort in Halle ( Saale ) Kontakte zu knüpfen . Die finanziellen Mittel haben der Leopoldina Akademie Freundeskreis sowie die Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung bereitgestellt .
Foto : Markus Scholz | Leopoldina
In der berühmten Formel von Gustav Radbruch kann evidentes Unrecht kein Recht sein . Nach der Wiedervereinigung wurde diese Argumentation bei der Verurteilung der Mauerschützen wieder aufgegriffen , deren Taten in der DDR ja gesetzlich erlaubt waren . Wir leben zwar in einer säkularen Gesellschaft , glauben aber , dass wir das Ungerechte erkennen können . Insofern bleibt ein Rest des Naturrechts erhalten , auch als Teil unserer Rechtsordnung . Auch hier erkennen wir , dass der Gesetzesbegriff ein Verbundbegriff ist , der aufschließt zu Grundfragen der Philosophie und auch der Theologie .
Welche Rolle spielen die Gesetze der Religionen , der Ethik und Moral für Ihr Thema ? Kablitz : Eine wichtige . Wir haben gesehen , dass die Wortbedeutung „ das Gesetzte “ auch zu einem modernen Konzept von Naturgesetzen passt . Hier hat die Entwicklung die alte Wortbedeutung wieder eingeholt : In
Andreas Kablitz . der griechischen
Mythologie ist es das Konsilium der Götter im Olymp , das die Gesetze für die Natur „ setzt “. Samwer : Auch die Naturwissenschaftler haben früher alles , was sie nicht erklären konnten , höheren Mächten zugeordnet . Voßkuhle : Mit dem Begriff „ Gesetz “ sind historisch viele Dinge verbunden , die aus heutiger Sicht unwissenschaftlich und unreflektiert wirken könnten . Auch insofern ist das ein gutes Thema für eine wissenschaftliche Akademie .
Gibt es bei aller Unterschiedlichkeit der Forschungsgegenstände , der Untersuchungsmethoden und der Wissenschaftskulturen etwas , das alle Wissenschaften eint ? Samwer : Uns eint die Erkenntnis , dass wir in aller Demut nur einen Teil der Wirklichkeit verstehen . Schon deshalb braucht Wissenschaft den lebendigen , offenen und unerschrockenen Diskurs über die Grenzen der Disziplinen hinweg . Voßkuhle : Ich glaube auch , dass der Umgang mit Nichtwissen eine gemeinsame Herausforderung für uns ist , er ist bei aller Unterschiedlichkeit konstitutiv für unsere wissenschaftliche Vorgehensweise . Dass wir nie das Ganze Andreas Voßkuhle . erklären können und mit Unsicherheiten umgehen müssen , ist eine Grundüberlegung , die zu einer gewissen Demut führen sollte . Kablitz : Dem stimme ich völlig zu . Leider gibt es zwei Hürden , die der notwendigen Demut im Wege stehen : Psychologisch gesehen motiviert Forschende eher die Aussicht auf bahnbrechende Erkenntnisse . Und unsere Sprache verführt uns zur Annahme von Tatsächlichkeiten . Beides sollten wir uns bewusst machen .
■ DAS GESPRÄCH FÜHRTE ADELHEID MÜLLER-LISSNER
Jahresversammlung „ Gesetz ( e ): Regeln der Wirklichkeit – Regeln für die Wirklichkeit “