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1 / 2022 // LEOPOLDINA / NEWSLETTER 7

„ Kinderrechte sind ein wichtiges Thema “

Leopoldina-Mitglied Jutta Gärtner über ihr Engagement in der Nationalen Akademie der Wissenschaften
Die Kinder- und Jugendmedizinerin Jutta Gärtner ML wurde im September 2021 ins Präsidium der Leopoldina gewählt , seit November ist sie überdies Vorsitzende des Leopoldina Human Rights Committee , das sich mit der Förderung der Menschenrechte und mit Ethik in den Wissenschaften befasst . Ein Gespräch über ihre vielfältigen Aktivitäten in der Akademie .
Frau Gärtner , seit Beginn der Coronavirus-Pandemie gab es zehn Ad-hoc- Stellungnahmen und weitere Publikationen der Leopoldina zum Thema . Sie haben sich aktiv eingebracht , obwohl Sie mit der Leitung einer Universitätsklinik schon einen anspruchsvollen , zeitlich belastenden Beruf haben . Was hat sie dazu motiviert ? Jutta Gärtner : Motiviert hat mich , wie auch andere , mich in besonderen Situationen persönlich und für die Leopoldina zu Wort zu melden . Zum Beispiel Ende November , als wir nicht mehr mit ansehen wollten , wie die Corona-Zahlen drastisch in die Höhe gingen . Unsere multidisziplinäre Gruppe , in der Kliniker , Grundlagenforscher , aber auch Ethiker und Juristen vertreten waren , hat deshalb wirkungsvollere Kontaktbeschränkungen gefordert und auch das Wort „ Impfpflicht “ in den Mund genommen . Wenn wir das nicht sagen , wer soll es dann tun ?
In der Ad-hoc-Stellungnahme zur Coronavirus-Pandemie von Juni 2021 stehen Heranwachsende im Mittelpunkt . Was war Ihnen wichtig ? Gärtner : Wichtig war uns zu fordern , Kinder und Jugendliche in der Pandemie nicht zu vernachlässigen . Im Frühjahr 2020 ist es rasch zu Schulschließungen gekommen , die Belastungen für die Kinder selber , aber auch für die Eltern und das Gesamtgefüge Familie waren zu Beginn noch wenig im Blick . Das ist inzwischen anders , es gab etliche weitere Stellungnahmen , unter anderem von
Jutta Gärtner ML
Direktorin der Klinik für Kinder- und
Jugendmedizin an der Universitätsmedizin Göttingen . Die Spezialistin für Neuropädiatrie forscht zu neurometabolischen und neurodegenerativen Erkrankungen sowie zu Multipler Sklerose bei Kindern und Jugendlichen . Jutta Gärtner ist seit 2014 Mitglied der Leopoldina , seit September 2021 Präsidiumsmitglied und seit November 2021 Vorsitzende des Leopoldina Human Rights Committee ( HRC ), das sich weltweit für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler einsetzt , die aufgrund ihrer wissenschaftlichen Arbeit verfolgt werden .
Foto : Markus Scholz | Leopoldina
Lehrerverbänden und Ärzteorganisationen . In den Kinderkliniken ist uns aufgefallen , dass während des Lockdowns im Vergleich zum Vorjahr sehr viel weniger Kinder mit Infektionskrankheiten aufgenommen werden mussten , dass die Stationen aber trotzdem pickepacke voll waren – mit Kindern , die beispielsweise unter Kopf- und Bauchschmerzen oder unter Essstörungen litten . Der deutliche Anstieg dieser Erkrankungen konnte einem gar nicht entgehen .
Welche „ Kinder “ -Themen , die im Verlauf der Coronavirus-Pandemie Einzug in die Stellungnahmen gefunden haben , liegen Ihnen persönlich besonders am Herzen ? Gärtner : Das gesunde Aufwachsen ist ein Thema , das nicht nur in dieser Pandemie , sondern immer im Blick sein sollte . Die Entwicklung eines Kindes und Jugendlichen ist schließlich an Zeitfenster gebunden und kann nicht nachgeholt werden . Kinderrechte sind ein Thema , das noch näher betrachtet werden muss , wenn wir in ruhigerem Fahrwasser sind .
Sie haben kürzlich auch den Vorsitz im Human Rights Committee der Leopoldina übernommen . Wie sehen hier die brennendsten Sorgen aus ? Gärtner : In diesem Gremium kümmern wir uns um Wissenschaftler in aller Welt , die wegen ihrer Forschung verfolgt werden . Mein Wunsch ist , dass wir den Blick noch stärker auf Kolleginnen und Kollegen in Europa richten , ich sehe insbesondere in einigen osteuropäischen Ländern großen Handlungsbedarf .
Als Nationale Akademie der Wissenschaften hat die Leopoldina die Aufgabe der unabhängigen und wissenschaftsbasierten Politikberatung . Hand aufs Herz : Wünschen Sie sich manchmal eine Expertokratie , in der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ihre faktenbasierten Forderungen zeitnah und vollständig selbst umsetzen könnten ? Gärtner : Nein . Wissenschaft muss sich unabhängig von politischen Zwängen und international vernetzt um Fortschritt bemühen und unbehindert Stellung nehmen können . Ich bin daher strikt gegen eine Vermengung der Kompetenzen .
■ DAS GESPRÄCH FÜHRTE ADELHEID MÜLLER-LISSNER
Jutta Gärtner Präsidium Human Rights Committee