Leopoldina aktuell 2_2022 | Page 8

8 2 / 2022 // LEOPOLDINA / NEWSLETTER

„ Für die Glaubwürdigkeit von Forschenden zählt die Trennung von Fakt und Meinung “

Artikelserie „ Politikberatung im Spannungsfeld von Wissenschaft , Politik und Medien “
Gerade in der wissenschaftsbasierten Politikberatung ist es wichtig , aufmerksam und transparent mit Werturteilen umzugehen . Empfehlungen und Sollensaussagen sind keine wissenschaftliche Beschreibung der Welt oder ihrer Wirkungszusammenhänge . Es sind vielmehr Feststellungen , die explizit oder implizit alternative Situationen wertend vergleichen . Dabei sind die ihnen zugrundeliegenden Wertungskriterien in der Regel nicht in der Wissenschaft selbst begründet .
VON REGINA T . RIPHAHN ML *
„ Wichtig ist Transparenz darüber , dass Werturteile nicht nach wissenschaftlichen Kriterien gefällt werden .“
Regina T . Riphahn Vizepräsidentin der Leopoldina
Foto : Markus Scholz | Leopoldina

Jeder Mensch darf ( und muss ) Werturteile fällen . Das gilt selbstverständlich auch für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler . Wichtig ist aber Transparenz darüber , dass Werturteile nicht nach wissenschaftlichen Kriterien gefällt werden .

Für die Akzeptanz von Wissenschaft in ihrer beratenden Funktion zählt zum einen , dass sie unabhängig ist . Zum anderen ist es bedeutsam , den Unterschied zwischen werturteilsfreien Seinsaussagen ( Beschreibungen ) und werturteilsbehafteten Sollensaussagen ( Normen ) zu beachten . Es ist keine wissenschaftliche Frage , ob eine Wachstumseinbuße von drei Prozent der Wirtschaftsleistung ein „ akzeptabler Preis “ für eine Maßnahme zur Erreichung außenpolitischer Ziele ist . Oder ob es „ angemessen “ ist , Schulen zu schließen , um 500.000 Infektionen mit einem gewissen Anteil erwartbarer Todesfälle zu verhindern . Zu diesen Fragen darf jede Person eine eigene Meinung haben . Dabei gilt die Meinung von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern a priori nicht mehr als die von anderen Personen .
Für die Glaubwürdigkeit und Überzeugungskraft der beratenden Aussagen von Forschenden zählt die Trennung von Fakt und Meinung . Darauf weist die von
der „ Initiative für evidenzbasierte Politikgestaltung “ der Leopoldina im Frühjahr 2021 beauftragte Befragung von Mitgliedern des deutschen Bundestages hin . Die Ergebnisauswertung enthielt die Rückmeldung der Parlamentarierinnen und Parlamentarier : „ Aus den Erkenntnissen abgeleitete Handlungsempfehlungen sollten klar von diesen getrennt sein (...).“
Dieser Gedanke wurde auch in Paragraph 2 des Gesetzes über die Bildung eines Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung ( SachvRatG ) abgebildet . In diesem heißt es : „ Der Sachverständigenrat soll in seinen Gutachten die jeweilige gesamtwirtschaftliche Lage und deren absehbare Entwicklung darstellen . (...) Bei der Untersuchung sollen jeweils verschiedene Annahmen zugrunde gelegt und deren unterschiedliche Wirkungen dargestellt und beurteilt werden . Der Sachverständigenrat soll (...) jedoch keine Empfehlungen für bestimmte wirtschafts- und sozialpolitische Maßnahmen aussprechen .“
Aber wie sieht es dann mit der Verantwortung der Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen aus ? Müssen sich nicht die Expertinnen und Experten , die über besondere Ein- und Übersicht verfügen , im Notfall mit klaren Ansagen zu Wort melden ? Das dürfen und sollen sie , so wie es jede Bürgerin und jeder Bürger darf . Dort , wo jedoch eine wissenschaftliche Gültigkeit der Aussagen impliziert wird oder als solche verstanden werden kann , ist sorgfältige Formulierung besonders wichtig . Dabei kann man im Wenn-Dann-Aussageformat bleiben und notfalls Werturteile als solche benennen .
Denn die Stärke der Expertinnen und Experten liegt ja gerade in der präzisen Darstellung von Handlungsoptionen auf der Basis objektiver , werturteilsfreier Analysen und nicht in ihren subjektiven Meinungen . Die Autoren des SachvRatG sahen das schon 1963 so , als sie das Gesetz erließen .
* Regina T . Riphahn ist seit 2017 Vizepräsidentin der Leopoldina . Die Wirtschaftswissenschaftlerin vertritt die Evidenzinitiative , die unter dem Dach der Leopoldina angesiedelt ist . Die Initiative bietet ein Dialog- und Vernetzungsformat mit und für Verantwortliche und Interessierte in Politik und Wissenschaft .
Thema im Fokus „ Evidenzbasierte Politikberatung “