Leopoldina aktuell 4_2021 | Page 10

10 4 / 2021 // LEOPOLDINA / NEWSLETTER

„ Europas Rechtsgemeinschaft ist eine große zivilisatorische Errungenschaft “

Leopoldina-Mitglied Andreas Voßkuhle über die Grundidee des Verbunds und aktuelle Krisen
Andreas Voßkuhle ist Direktor des Instituts für Staatswissenschaft und Rechtsphilosophie an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg . Von März 2010 bis Juni 2020 war er Präsident des Bundesverfassungsgerichts ( BVG ) und Vorsitzender des Zweiten Senats . Zuvor war er von April bis Mai 2008 Rektor der Universität Freiburg ; dieses Amt hatte er inne , als er zum Richter und Vizepräsidenten des BVG ernannt wurde . Seit 2007 ist er Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften , seit 2012 Mitglied des Senats der Max-Planck- Gesellschaft und seit 2018 Mitglied der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina . Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören Verfassungsrecht , Allgemeines Verwaltungsrecht , Staatstheorie und Rechtstheorie .
Foto : Klaus Polkowski
Der Rechtswissenschaftler Andreas Voßkuhle ML war bis Juni 2020 Präsident des Bundesverfassungsgerichts . Im Jahr 2018 wurde er zum Mitglied der Leopoldina gewählt und gehört seither der Klasse IV Geistes- , Sozial- und Verhaltenswissenschaften an . Zu deren Symposium Anfang November hielt Voßkuhle den öffentlichen Abendvortrag „ Die europäische Rechtsgemeinschaft in der Krise !?“ valenz möchte ich durch die beiden Satzzeichen ansprechen .
Was beinhaltet die Idee der „ europäischen Rechtsgemeinschaft “ eigentlich ? Voßkuhle : Der Begriff wurde von Walter Hallstein eingeführt , dem ersten Vorsitzenden der Kommission der damaligen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft . Er wollte damit die zentrale Rolle des Rechts für die Europäische Gemeinschaft in den Vordergrund rücken . Ihm ging es darum , dass nicht mehr Macht , Unterwerfung und kriegerische Auseinandersetzung bei Konflikten entscheidend sein sollten . Deshalb hat man auf die Verträge gesetzt und versucht , das Zusammenwirken der Mitgliedstaaten rechtlich einzuhegen .
Die unmittelbare Geltung des gemeinsamen Rechts und sein Vorrang vor dem nationalen Recht sind untypisch für eine vormals völkerrechtliche Organisation . Es ist eine große zivilisatorische Errungen-
Herr Voßkuhle , was für eine Bewandtnis hat es mit der doppelten Interpunktion im Titel Ihres Vortrages ? Andreas Voßkuhle : In der Europäischen Union ( EU ) beobachten wir im Augenblick unterschiedliche Entwicklungen . Während in einigen Mitgliedsstaaten rechtsstaatliche Garantien nachhaltig in Frage gestellt werden , erleben wir gleichzeitig im Alltag einen überwiegend sehr gut funktionierenden europäischen Gerichts- und Rechtsverbund . Diese Ambischaft , was hier in Europa gelungen ist .
Und das alles muss in 24 offiziellen Amtssprachen klappen . Voßkuhle : Ja , die vielsprachige Rechtskommunikation ist ein weiteres Kennzeichen der europäischen Rechtsgemeinschaft . Alle Texte werden ja in alle Mitgliedssprachen übersetzt , Verträge müssen im Lichte verschiedener Übersetzungen immer wieder interpretiert werden . Das führt zu einem sensibleren Umgang mit Recht .
In einen besonderen Konflikt war im Mai 2020 Deutschland verwickelt : Es ging um das PSPP-Urteil des Bundesverfassungsgerichts , das die Anleihen-Kaufprogramme der Europäischen Zentralbank ( EZB ) betrifft . Voßkuhle : Ja , zum ersten Mal hat das Bundesverfassungsgericht einen europäischen Rechtsakt und die ihn bestätigende Entscheidung des Europäischen Gerichts-