Leopoldina aktuell 1_2022 | Page 9

1 / 2022 // LEOPOLDINA / NEWSLETTER 9

Politikberatung im Spannungsfeld von Wissenschaft , Politik und Medien

Leopoldina-Präsident Gerald Haug gibt den Auftakt für eine Artikelserie zu diesem Thema
Die Coronavirus-Pandemie wirkte wie ein Katalysator – überwiegend mit negativen , aber auch mit positiven Folgen . So sind Impfstoffe in einem Tempo entwickelt worden , das vorher kaum vorstellbar war . Doch führten Schwachstellen unseres Gesundheitssystems , etwa bei der Digitalisierung , zu gravierenden Einschränkungen bei der Pandemiebekämpfung . Welche Auswirkungen die Erfahrungen der letzten zwei Jahre langfristig auf das Verhältnis zwischen Wissenschaft , Politik und Medien haben werden , ist eine noch offene Frage . Die Antwort wird wesentlich davon abhängen , wie sich unser Verständnis von Freiheit und Verantwortung der Wissenschaft entwickelt .
VON GERALD H . HAUG ML *
„ Ich halte das stärkere Interesse der Öffentlichkeit an den Aufgaben , Werkzeugen und Grenzen der wissenschaftsbasierten Politikberatung für ein positives Zeichen .“
Gerald Haug Präsident der Leopoldina
Foto : David Ausserhofer | Leopoldina
basierten Politikberatung für ein positives Zeichen . Die Wissenschaft wird so ernst genommen , wie sie es selbst seit langem gefordert hat . Sie trägt somit einen Großteil der Verantwortung daran , dass der relevante Forschungsstand zuverlässig , verständlich und zeitnah in die öffentliche Debatte einfließt .
Dabei geht es nicht nur um die Information über Fakten und die Darlegung von Handlungsoptionen . Es geht auch darum , eine Idee von Wissenschaftsfreiheit in die Praxis umzusetzen , die zwei Elemente miteinander verknüpft : die Unabhängigkeit von staatlichen Zielvorgaben und das Engagement für die Bewältigung gesellschaftlicher Herausforderungen . Wir sollten Wilhelm von Humboldts Formel von der „ notwendigen Freiheit und hilfreichen Einsamkeit “ keinesfalls zu orthodox interpretieren : Wer sich der freien Wissenschaft widmet , muss dies nicht immerzu fernab von den Nöten und Erwartungen der Gesellschaft tun .
Dem zuweilen geäußerten Generalverdacht gegenüber der Wissenschaft , dass sie sich während der Pandemie politisch einspannen ließ , antworte ich hinsichtlich der Aktivitäten der Leopoldina : Unsere Akademie bietet einen Freiheitsraum , in-

Die in Deutschland grundgesetzlich geschützte Wissenschaftsfreiheit eröffnet den Spielraum , in dem sich eine von Neugier getriebene Forschung so vielgestaltig entfaltet , dass sie die kulturelle , soziale und wirtschaftliche Entwicklung unserer Gesellschaft bestmöglich fördern kann . Diese Freiheit ermöglicht auch eine von politischen und wirtschaftlichen Interessen unabhängige Politikberatung , wie sie die Leopoldina als Nationale Akademie der Wissenschaften Deutschlands leistet .

Hier wirkte die Pandemie ebenfalls wie ein Katalysator . Wissenschaftsbasierte Analysen und Handlungsoptionen mussten schneller vorliegen ; von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern wurde eine verstärkte Medienpräsenz erwartet ; gaben sie unterschiedliche Einschätzungen ab , knüpften sich daran Zweifel an der Vertrauenswürdigkeit der Wissenschaft und ihrer legitimen Rolle in der politischen Entscheidungsfindung .
Ich halte das stärkere Interesse der Öffentlichkeit an den Aufgaben , Werkzeugen und Grenzen der wissenschaftsnerhalb dessen interdisziplinäre Arbeitsgruppen auf der Grundlage des jeweiligen wissenschaftlichen Erkenntnisstandes Analysen dringender gesellschaftlicher Herausforderungen durchführen und realistische Handlungsoptionen vorschlagen . Der hierfür notwendige Dialog bringt uns in Kontakt mit der Politik und anderen außerwissenschaftlichen Bereichen . Aber wir verlieren dadurch nicht unsere Unabhängigkeit – ganz im Gegenteil : Wir tragen so zur zunehmenden Relevanz der Wissenschaftsfreiheit für eine Gesellschaft bei , die nicht nur Pandemien bewältigen , sondern sich auch nachhaltig entwickeln will .
In den kommenden Ausgaben des Newsletters werden Mitglieder der Leopoldina ihre Sichtweise auf die Politikberatung der Akademie im Spannungsfeld von Wissenschaft , Politik und Medien darstellen . Davon erwarte ich konstruktive Impulse nicht nur für die Diskussion innerhalb der Leopoldina , sondern auch für eine öffentliche Debatte , deren Verlauf das Vertrauen in die Wissenschaft hoffentlich stärken wird .
* Gerald H . Haug ist Klimaforscher , Geologe und Paläo-Ozeanograph , seit 2020 Präsident der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina .